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Kurz nach Justine Castles Verhaftung hatte Mike Greene den Staatsanwalt Fred Scofield gebeten, ihm eine Kopie der Akte über den Fall Cardoni zu schicken. Sie kam am Montagnachmittag an. Greene las gerade in ihr, als Sean McCarthy kurz nach fünf in sein Büro kam. Der Detective des Morddezernats wirkte deprimiert. Er warf einen Stapel Polizeiberichte auf Greenes Schreibtisch und setzte sich auf einen Stuhl.
»Mein Gott, Sie sehen ja furchtbar aus«, sagte Greene. »Wollen Sie einen Kaffee?«
McCarthy lehnte das Angebot mit einer resignierten Handbewegung ab.
»Wir haben ein echtes Problem, Mike. Alles, was wir bis jetzt haben, zwingt mich zu der Annahme, dass derjenige, der die Morde in Milton County begangen hatte, auch die Morde auf der Farm beging. Beide Anwesen wurden auf Anweisung eines anonymen Käufers mit Hilfe einer Briefkastenfirma erworben, die jeweils von einem Anwalt, der massive Schwierigkeiten mit der Anwaltskammer hatte, gegründet wurde. Die Tatorte sind sich so ähnlich, dass das kein Zufall sein kann.«
Greene machte ein verwirrtes Gesicht. »Warum ist das ein Problem?«
»Wenn Dr. Castle die Opfer auf der Farm ermordet hat, dann haben wir vor vier Jahren ziemlichen Mist gebaut.«
»Dann machen wir jetzt eben alles wieder gut.«
»Das ist vielleicht nicht so einfach. Wenn wir nicht beweisen können, dass Cardoni tot ist, dann werden die Jaffes argumentieren, dass er zurückgekehrt ist, um Castle diese Untaten anzuhängen. Sie können Fred Scofield und Sheriff Mills als Zeugen aufrufen und sie aussagen lassen, dass sie überzeugt waren, Cardoni habe die Opfer in Milton County ermordet. Verdammt, Mike, sie können sogar mich aufrufen, und ich muss beschwören, dass ich mir sicher war, Cardoni sei es gewesen.«
Greene überlegte. Er deutete auf die Papiere, die auf seinem Schreibtisch verstreut lagen.
»Die Beweislage gegen Cardoni war ziemlich überzeugend.«
»Und es gab keinen Hinweis, der Dr. Castle belastete.«
Greene saß einen Augenblick gedankenverloren da. Als er sich dann wieder McCarthy zuwandte, wirkte er besorgt.
»Haben Sie die Opfer auf der Farm schon identifizieren können? Gibt es Verbindungen zwischen ihnen und Castle?«
»Der arme Kerl, der im Keller starb, war ein Stricher namens Zach Petrie. Eine Woche vor seinem Tod kam er in die Notaufnahme des St. Francis, aber es gibt keinen Hinweis, dass Castle mit seinem Fall zu tun hatte.«
»Was ist mit den anderen?«
»Diane Vickers war eine Prostituierte, die im St. Francis wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt wurde, aber soweit wir wissen, hat Castle sie nicht behandelt. David Capp war ein Ausreißer und wir können überhaupt keine Verbindung zwischen ihm und dem St. Francis oder gar Dr. Castle finden. Die drei wurden nie als vermisst gemeldet, aber das Verschwinden von Kimberly Lyons, dem anderen weiblichen Opfer, haben wir als potenziellen Mordfall behandelt, als sie vor einigen Monaten verschwand. Sie war Studentin an der Portland State. Soweit wir wissen, wurde sie im Lloyd-Einkaufszentrum entführt. Ihr Auto wurde dort gefunden, und sie hatte ihren Freundinnen gesagt, dass sie dort ein Geburtstagsgeschenk für ihren Freund kaufen wolle.«
»Glauben Sie, dass es sich auch bei den anderen um wahllose Entführungen handelte?«
McCarthy zuckte die Achseln.
»Wie wär's, wenn Sie sich noch einmal mit den alten Opfern beschäftigten, um festzustellen, ob es eine Verbindung zwischen ihnen und Dr. Castle gab?«
»Ich bin schon dabei.«
Greene lächelte, »'tschuldigung, davon hätte ich eigentlich ausgehen müssen. Gibt's sonst noch was Neues?“
»Der DNS-Test identifizierte das Haar in der OP-Haube als eines der Castle. Ich habe außerdem mit dem Anwalt gesprochen, der Cardoni bei seiner Scheidung vertrat. Nach Cardonis Verschwinden brachte Castle die Scheidung problemlos durch und sahnte ziemlich ab.«
»Wie viel?«
»Ungefähr zwei Millionen Dollar.«
Green pfiff durch die Zähne. »Zwei Millionen Dollar sind ein gutes Motiv für einen Mord an Cardoni.«
»Der Anwalt sagte mir außerdem, Castle sei überzeugt gewesen, dass Cardoni geheime Bankkonten in der Schweiz und auf den Cayman-Inseln hätte, sie habe sie aber nie gefunden. Als ich ihn fragte, wann sie angefangen habe, nach den Konten zu fahnden, sagte er, das sei lange vor dem Einreichen der Scheidung gewesen.«
»Warum ist das wichtig?«
»Vor vier Jahren sagte Castle bei Cardonis Kautionsanhörung aus, dass sie ihn verlassen habe, nachdem er sie vergewaltigt hätte. Aber es sieht eher so aus, als habe sie schon davor in seinen Finanzen herumgeschnüffelt.«
»Und was haben wir jetzt, eine schwarze Witwe?«
»Allmählich sieht es so aus, Mike. Wenn sie Cardoni umgebracht hat, dann war das nicht das erste Mal, dass sie sich einen Gatten vom Hals geschafft hat.«
»Ach so?«
»Vielleicht nicht einmal das zweite Mal.“